Die Beauftragte für Menschen mit Behinderung

Buchtipps von Simone Fischer, der Beauftragten für die Belange von Menschen mit Behinderung der Landeshauptstadt Stuttgart

Simone Fischer empfiehlt:

Wer bist Du? Unser Leben mit Friedrich
von Florian Jaenicke

Aufbau Verlag, Berlin 2020
Sachbuch

Ich empfehle dieses Buch, weil…

… es zeigt, wie das Leben mit einem Kind mit schwerer Behinderung ist: voll von Barrieren und voll von Liebe. Voll von Ängsten und voll von Freude und Glück. Voll von Visionen und voll von Alltag im Hier und Jetzt. Florian Jaenicke beschreibt das Leben mit seinem Sohn Friedrich ehrlich und echt. Er besänftigt nicht, macht Mut. Er beschreibt Glücksmomente durch wunderbare Musik, leckerem Essen, Freiheit im Wasser, Streicheleinheiten für Körper, Geist und Seele.

Die Geschichte beginnt mit Friedrichs Geburt. Friedrich kam viel zu früh auf die Welt. Eine Sauerstoffunterversorgung führte zu Schädigungen, deren Umfang erst nach und nach bewusstwurde. Bereits mit neun Monaten fing Friedrich zu krampfen an. Er wurde am ganzen Körper steif, diese Krämpfe waren schmerzhaft und verstörend. Seine Eltern versuchen, weltweit die bestmöglichen Behandlungen zu finden, um Friedrich das Beste an Lebensqualität bieten zu können. Wie ist es, wenn das eigene Kind sich nicht verbal äußern und auch keinen Augenkontakt halten kann? Wie ist der Alltag? Wie sind die Reaktionen in der Öffentlichkeit? Welche Hilflosigkeit erfährt man durch äußere Barrieren?

Das Buch berührt, macht nachdenklich, demütig, dankbar. Die Schilderungen sind mühevoll, glücklich, traurig, fröhlich, beschwerlich, lästig, heiter, unbequem…
Florian Jaenicke beschreibt voller Liebe viele Glücksmomente mit Friedrich, von sei-nem Lächeln, das die Herzen mit Freude füllt.Was Menschen mit Behinderung und ihre Eltern am meisten brauchen? Verständnis, Selbstverständlichkeit und Respekt.

Ein authentisches, ehrliches, offenes Buch voller Schwere, Freude und Liebe.

Welcher Satz ist dir besonders in Erinnerung geblieben?

„Glück ist da, wo Liebe ist.“
„Wasser ist das Größte für ihn. Es ist die pure Lebensfreude.“ 

Wer die Nachtigall stört
von Harper Lee

Rowohlt Verlag, Hamburg 2015
Roman

Ich empfehle dieses Buch, weil…

Poetisch und liebevoll erzählt die Geschichte vom Erwachsenwerden und das Vermitteln von Werten, die jedem Kind vermittelt werden sollten. Harper Lee beschreibt feinfühlig, detailreich und sehr authentisch über die Kindheits- und Jugenderlebnisse der kleinen Heldin Scout und ihrem Bruder Jem, durchzogen vom brutalen Rassismus und den Vorurteilen im Alabama der 1930er Jahre. Eine Geschichte, die zum Nachdenken anregt, die den Rassenwahn der USA in den Jahren der Sklaverei und Ausbeutung spüren lassen. Das Buch steckt voller Weisheit, Weitsicht und Liebe, erzählt von wundervollen Charakteren. Es handelt von Fremdheit, Unrecht, Gerechtigkeit und Zivilcourage und ist ein Plädoyer für die Gleichheit aller Menschen. Harper Lee vermeidet die Perspektive der Bitterkeit, stellt die Menschlichkeit und den Wert der Freundschaft packend in den Vordergrund. Sie schildert beherzt, wie falsche Vorstellungen Menschen prägen, wie sie dadurch anderen sehr Schlimmes antun können und welch Größe es braucht und sich lohnt, gegen den Strom zu schwimmen.

Ein betagtes, ganz aktuelles, gütiges Buch mit großer menschlicher Kraft!

Welcher Satz ist Dir besonders in Erinnerung geblieben?

„Mut heiß: Von vornherein wissen, dass man geschlagen ist und trotzdem den Kampf – ganz gleich, um was es geht – aufnehmen und ihn durchstehen. Man gewinnt selten, aber zuweilen geht es.“

Momo
von Michael Ende

Thienemann-Esslinger Verlag, Stuttgart 2014
Roman

Ich empfehle dieses Buch, weil…

Michael Ende nimmt uns mit auf eine Reise und schreibt mit viel Klugheit und Liebe über die Magie des Augenblicks. Er entführt uns in eine Welt, die doch irgendwie die unsere ist. Momo ist mehr als ein Kinderbuch. Eine Mahnung an jede*n von uns, das eigene Tun zu überdenken und in Frage zu stellen, welches Leben wir leben wollen. Michael Ende überlässt es uns selbst, unsere eigenen Schlüsse zu ziehen, erzählt nie mit erhobenem Zeigefinger. Phantasievoll beschreibt er wundervolle Begebenheiten aus der Perspektive der Kinder, aber auch die Furcht und den Verlust, der uns zuteilwird, wenn Menschen oder wir selbst uns dazu zwingen, Zeit zu sparen. Momo hat viele Freunde, die sie unterstützen, die ihr helfen und sie fast täglich besuchen kommen. Denn sie hat eine ganz besondere Gabe, die nur sehr wenige Menschen besitzen, da sie sich keine Zeit mehr dafür nehmen: Zuhören! Das Buch vermittelt fantastisch, was richtiges Zuhören bewirken kann, auch wenn uns das nicht immer so leichtfällt.

Das Buch stammt aus dem Jahr 1973 und liest sich aktueller denn je. Michael Ende macht uns das Geschenk, in den Spiegel zu schauen – rennt doch auch unsere Gesellschaft gern der Zeit hinterher, ist ihr noch lieber voraus und stellt monetäre Anreize und Nutzen in den Vordergrund.

Jedes Kind sollte das Buch lesen, um auf das Leben vorbereitet zu werden und die Welt später etwas besser zu machen. Es ist wunderschön geschrieben und eine Umarmung für jeden Erwachsenen, um sich gegen die Belastungen des Alltags zu stärken. Momo ist ein wunderbares Buch!

Welcher Satz ist Dir besonders in Erinnerung geblieben?

„Momo konnte so zuhören, dass dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanken kamen. Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, was den anderen auf solche Gedanken brachte – nein, sie saß nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit und aller Anteilnahme. Dabei schaute sie den anderen mit ihren großen, dunklen Augen an, und der Betreffende fühlte, wie in ihm plötzlich Gedanken auftauchten, von denen er nie geahnt hatte, dass sie in ihm steckten. Sie konnte so zuhören, dass ratlose, unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten. Oder dass Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten. Oder dass Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden. Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur irgendeiner unter Millionen, einer, auf denen es überhaupt nicht ankommt, und er ebenso schnell ersetzt werden kann wie ein kaputter Topf – und er ging hin und erzählte das alles der kleinen Momo, dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar, dass er sich gründlich irrte, dass es ihn, genauso wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und dass er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war. So konnte Momo zuhören!“

Alte Sorten
von Ewald Arenz

Dumont Verlag, Köln 2019
Roman

Ich empfehle dieses Buch, weil…

Mit Sally, ein Teenager auf der Flucht und Liss, eine Landwirtin, treffen zwei Einzelgängerinnen aufeinander. Beide sind auf ihre Art verletzt, weil es die Welt nicht immer gut mit jenen meint, die vermeintlich anders sind. Anders empfindsam, anders klug, anders eigenwillig. So unterschiedlich die beiden Frauen auch sind, es braucht nicht vieler Worte, sie verbindet das gemeinsame Tun. Zerbrechlich und zart scheint die Annährung von Sally und Liss, die nach und nach auch bei sich selbst ankommen.

Ewald Arenz hat eine zauberhafte Geschichte geschaffen, mit der er einlädt, zum Beispiel den Geschmack der Birnen mit der Psyche zu erleben. Beim Lesen kann man buchstäblich die alten Birnensorten auf den Lippen schmecken, der Duft von frisch gebackenem Brot und frischer Erde kitzelt in der Nase. Es sind die sinnlichen Beschreibungen, die Liebe zur Natur, zur Imkerei, zum Weinbau, die sprachlich verblüffenden Bilder, die er zeichnet und die niemanden unberührt zurücklässt.

Menschen so sein zu lassen, wie sie sind. Offen zu sein, zu akzeptieren, nicht alles zu hinterfragen, auf sich selbst vertrauen und so sein zu können ist unglaublich befreiend. Ein fantastisches Buch der leisen Töne.

Welcher Satz ist Dir besonders in Erinnerung geblieben?

„Sie hatte noch nie jemanden erlebt, der einen nicht… es war schwer zu sagen… der einen nicht in Besitz nahm. Und dem man trotzdem nicht gleichgültig war. Jemand, der nichts von einem wollte, was man nicht freiwillig gab.“

Tastbücher: Die Reihe „Architektur zum Anfassen“
Ich empfehle diese Bücher, weil…

Blinde Kinder entdecken die Welt mit den Fingerspitzen. Mit Tastbüchern können blinde Kinder spielerisch, die Welt erkunden.

Die Reihe “Architektur zum Anfassen” ermöglicht es, spannende Architekturthemen für Kinder berührbar zu machen. Sie begleiten eine Katze, die einen Ausflug über unterschiedliche Dachformen der Stadt macht. Sie entdecken das Geheimnis von Venedig oder setzen mit einem kleinen Drachen eine große Stadt zusammen. Es gibt sogar ein ganzes Olympiastadion als Tastbuch zum Aufklappen.

Jedes Kind muss die Möglichkeit haben, die Bücher zu lesen, die es lesen möchte. Bücher gehören zur Kindheit einfach dazu.

Während sehende Kinder Gebäude und deren Bauweise in Filmen oder im Original sehen können, entdecken sie blinde Kinder mit durch Beschreibungen oder mit den Fingerspitzen.

Leider gibt es kaum geeignete Bücher für blinde Kinder. Während auf dem deutschen Markt jährlich rund 9.000 neue Kinder- und Jugendbücher erscheinen, gibt es für blinde und sehbehinderte Kinder nur eine sehr kleine Auswahl an Tastbüchern, die zudem sehr schnell vergriffen ist. Bundesweit erscheinen jährlich nur drei bis vier neue Tastbücher mit einer Auflage von rund 200 Exemplaren.
Deshalb haben 20 Studierende der Technische Universität Berlin letztes Jahr acht Prototypen von Tastbüchern entwickelt, die es möglich machen, berühmte Bauwerke und spannende Architekturthemen wortwörtlich zu erfassen.

Die Architekturbücher wurden von der SKala-Initiative im Rahmen des Projekts „Ein Buch für jeden Tag“ des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes gefördert.

Für sehende Kinder sind Tastbücher ein wundervolles Geschenk, um die Welt blinder Kinder zu entdecken.

Welcher Satz ist Dir besonders in Erinnerung geblieben?

„Wo geht der Weg hin?“

Habt Ihr auch Empfehlungen oder gewünschte Themen für unsere „Unendliche Lebenswelten” Buchtipps? Dann schreibt uns einfach eine E-Mail an kkt@kkt-stuttgart.de.

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